Anerkennen, mitsehen, mitempfinden - Was unsere Kinder von uns lernen können

„Unsere Kinder lernen nicht das von uns, was wir Ihnen sagen, sondern Sie lernen das, was wir sind. (…) Die Kinder sind der Prüfstein der eigenen Werte und des eigenen Glaubens, ohne dass davon immer die Rede sein muss…“ (M.Meyer-Blanck)

Wenn im Folgenden davon die Rede ist, was unsere Kinder von uns lernen sollen, dann kann es nicht in erster Linie um das gehen, was wir unseren Kindern sagen können. Es muss sich vielmehr um das handeln, was für uns Erziehende in unserem Leben unbedingt wichtig ist, was wir in unserer Haltung und in unserem Handeln widerspiegeln.

Bedingungsloses Zugehen auf die Menschen

Das bedingungslose Zugehen auf den Anderen erscheint in den biblischen Geschichten als Grundzug Gottes und infolge dessen auch als Grundzug in den überlieferten Erzählungen von Jesus von Nazareth. Dieses bedingungsloses Zugehen auf die Menschen, das bedingungslose Zuwenden und Helfen gelten als Grundzug kirchlichen Handelns. Die Caritas – die Liebe, die Hinwendung zu Andren - ist so zu einem entscheidenden Grundzug christlichen Handelns geworden. Deshalb gehört Caritas/Diakonie zur Identität jener Gemeinschaften, die an den Gott des alten und neuen Bundes glauben?[1] Der jüdische Philosoph Emanuel Levinas beschreibt, dass im Anderen die Spur dessen wahrnehmbar wird, den wir in der jüdisch-christlichen Tradition „Gott“ nennen. [2] Die Beziehung zum Anderen ist der Ort, an dem sich die Beziehung des Menschen zu Gott bewähren muss. Jede Verzweckung des Anderen wäre eine Beleidigung Gottes. Diese bedingungslose Anerkennung des Anderen gipfelt darin, dass für Christen und Christinnen Gott gerade in demjenigen begegnet, der nach den Kriterien des gesellschaftlichen Lebens am Rand steht. Er rückt bei Gott ins Zentrum.[3] Von Gott reden heißt deshalb unbedingt, fremdes Leid zur Sprache zu bringen und versäumte Verantwortung, verweigerte Solidarität zu beklagen und für Gerechtigkeit einzutreten. Im Ernstnehmen dieser Verantwortung für den Anderen gilt es, die Leidempfindlichkeit der christlichen Botschaft ernst zu nehmen, ein Mitsehen und Mitempfinden für das Leid anderer zu entwickeln. Johann Baptist Metz hat hierfür das Wort „Compassion“ geprägt.[4]

Was heißt das konkret?

Dieses Kernstück christlichen Glaubens hat in beiden großen Kirchen institutionell Niederschlag in Caritas und Diakonie gefunden. Es ist aber viel mehr, als elementarer Vollzug der verfassten Kirchen. Es ist zunächst eine Haltung. Die Haltung, wie ich dem Anderen gegenübertrete. Wie respektvoll der Umgang mit den eigenen Kindern gestaltet ist. Wie sehr Kindern die Möglichkeit eröffnet wird, die je eigene Persönlichkeit auszubilden und nicht dem imaginären Bild der Eltern immer ähnlicher werden zu müssen. Wie respektvoll Eltern den Umgang miteinander gestalten, auch dort, wo Konflikte ausgetragen werden. Wie sehr Eltern sich gegenseitig Persönlichkeit sein lassen, wie sehr sie die Wertschätzung für den Anderen ausdrücken und schließlich der Persönlichkeit des Anderen Raum geben. In der Familie[5] kann diese Haltung zu allererst eingeübt werden, hier wird die eigene Haltung der Kinder entscheidend geprägt.

Wichtig ist aber auch, wie respektvoll Erziehende mit vermeintlich Schwächeren umgehen. Mit Kindern, deren Startchancen aufgrund ihrer Herkunft in benachteiligten Familien von vorne herein schlechter sind. Wie begegnen Eltern selbst diesen Kindern in Kindergarten oder Schule, wie reden sie mit diesen Menschen und mit den eigenen Kindern über diese Kinder und deren Familien. Hier eine respektvolle Haltung vorzuleben und so mit den Kindern einzuüben wird in unserer Gesellschaft zunehmend von Bedeutung sein. Immer mehr Kinder leben in Deutschland in Armut, Immer mehr Familien leben in schwierigen und unsicheren Lebensverhältnissen und drohen in die Armut abzurutschen. [6] Desintegration und Orientierungslosigkeit prägen die Gesellschaft zunehmend. So wird es in Zukunft von besonderer Bedeutung sein, unseren Kindern die Anerkennung eines jeden vorzuleben, damit sie eine Vorstellung davon entwickeln, dass jeder und jede das Recht hat, seine Lebensperspektive in dieser Gesellschaft entwickeln zu können. Das Schlimmste, was unserer Gesellschaft passieren kann, ist, dass immer mehr Menschen das Gefühl haben, nicht dazu zu gehören. Die Haltung der unbedingten Anerkennung des Anderen ist hier die Grundvoraussetzung, um Solidaritäten zu erhalten und damit die Voraussetzungen zu wahren, auf denen der Sozialstaat ruht, die er aber nicht selbst schaffen kann.

Unbedingte Anerkennung des Anderen

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit Menschen anderer Religionen. Deutschland wird zunehmend ein Einwanderungsland. Zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind beispielsweise Muslime. Wie begegnen Eltern selbst Muslimen und Musliminnen? Wie reagieren Kindergärten und Schulen auf die Anwesenheit muslimischer Kinder und Eltern? Wie respektvoll reden wir vor unseren eigenen Kindern über die Religion anderer, auch dann. wenn manches fremd und problematisch erscheint? Wie sehr bemühen sich Eltern und Erziehende zu differenzieren, wenn es um die Auseinandersetzung beispielsweise mit religiös motivierten, uns zunächst fremd wirkenden Verhaltensweisen geht, z.B. um die kopftuchtragende Mutter des muslimischen Kindes im Kindergarten? Unsere Kinder aus der Motivation der unbedingten Anerkennung des Anderen hier zur Achtung vor anderen Religionen und zum Dialog zu befähigen und zugleich den eigenen religiösen Standpunkt entwickeln zu können, wird für die Gesellschaft der Zukunft ebenfalls wichtig werden.[7]

Schließlich spielt es eine weitere entscheidende Rolle, wie wir mit Kranken und Sterbenden umgehen. Muten wir uns und unseren Kindern diese Auseinandersetzung zu? Schaffen wir es, eine Haltung und einen Umgang mit Alten, Schwerstkranken und Sterbenden zu entwickeln, an denen Kinder ablesen können, dass auch das Lebensende vor dem Hintergrund der unbedingten Anerkennung zu gestalten ist und Leben bis zum Schluss seine Berechtigung hat?

Die Unbedingte Anerkennung des Anderen, die auch das Mitleiden, das Mitsehen und Mitempfinden zum Thema hat, muss auch ihren Platz finden in kirchlichen Einrichtungen wie Kindertagesstätten oder Katholischen Schulen, von denen wenige bereits ein eigenes Schulprogramm haben, das den Compassiongedanken zur Klammer von Schulorganisation und Unterricht macht.

Es geht darum "Haltung" vorzuleben

Es wäre gut, wenn Freundeskreis, Gemeinde, Kindergarten, Schule, insbesondere aber die Familie auch eine „Schule“ der Anerkennung des Anderen würden, um jeden und jede in seiner Individualität, mit seinen Stärken und Schwächen anerkennen zu lernen. Dort wäre es auch möglich zu lernen, dass die Anerkennung des Anderen das Grenzensetzen, die Sorge für sich selbst und das klare Wort braucht.

Bei allem geht es nicht in erster Linie darum, unseren Kindern etwas zu erklären, sondern eine Haltung vorzuleben. Eine Haltung, die sich speist aus dem Vertrauen zu dem Gott, vom dem Jesus erzählt und dessen Botschaft er in seinem Leben in die Tat umgesetzt hat.

Dr. Judith Wolf


[1] Vgl.: Papst Benedikt XVI., Deus Caritas est, Rom 2006.

[2] Vgl.: Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins, 321-324.

[3] Vgl.: Herbert Haßlinger, Die Anerkennung des Anderen, in:Peter Hünseler, Eine Ethik des Helfens im Christentum, in: Strukturen des Helfens in Christentum und Islam (CIBEDO-Bände I), Frankfurt 2007

[4] Johann Baptist Metz u.a., Compassion, Das Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen, Freiburg/Br. 2000.

[5] Wichtig ist mir darauf hinzuweisen, dass hier nicht zwingend das Familienmodell der Ehe mit den eigenen Kindern gemeint ist. In jeder Familienform kann eine solche Haltung eingeübt werden, in Patchworkfamilien oder für Alleinerziehende kann gerade die Haltung der Anerkennung des Anderen zur besonderen Herausforderung werden. Sie kann, wenn sie gelingt, ausgesprochen positiv prägend sein.

[6] Vgl. den Artikel des Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes in diesem Heft: Peter Nehr, Kindheit und Armut

[7] Dem Konzilsdokument nostra aetate liegt genau diese unbedingte Anerkennung des Anderen und damit auch der anderen Religionen zugrunde.